Boris Palmer

Ein Beitrag in WELT

Deutschland ist im Niedergang, und die Menschen spüren das.
Sie sehen geschlossene Gasthäuser, lesen von Messerangriffen und können kaum noch ihre Wohnung zahlen, während der Staat Wohnraum für Geflüchtete schafft. Wer die AfD klein halten will, muss hier ansetzen, schreibt Boris Palmer in einem Gastkommentar.

Zwei Nachrichten vom selben Tag: Die AfD erreicht bei einer Wahlumfrage in Baden-Württemberg mit 19 Prozent ein Allzeithoch. Und: Die Mehrheit der befragten Entscheider des Allensbacher Elite-Panels ist der Meinung, Deutschland habe den Zenit überschritten.


Ich mag die Rolle als AfD-Versteher nicht, aber ich halte es für eine staatsbürgerliche Pflicht, deren Aufstieg nicht gleichgültig zu beobachten. Und wer diesen stoppen will, sollte verstehen, woher er rührt.
Wenn 19 Prozent der Baden-Württemberger sagen, sie wollten die AfD wählen, fällt die Erklärung mit den vermeintlichen Demokratiedefiziten hinterwäldlerischer Ossis flach.

Die einfache und weitverbreitete These, schuld seien CDU-Chef Friedrich Merz, CSU-Chef Markus Söder und alle, die Themen ansprechen, die der AfD Auftrieb geben, halte ich ebenfalls für wenig überzeugend. Sie leidet daran, dass man das Wahlvolk zu verhetzten Subjekten degradiert und den Leuten unterstellt, dass sie sich nur mit eingebildeten Problemen beschäftigen. Dass die AfD verschwindet, wenn niemand in der Politik mehr über Probleme mit Migration und Geflüchteten redet, ist einfach unwahrscheinlich.

Viel plausibler erscheint mir, dass die Leute etwas ernsthaft umtreibt, für das sie bei den etablierten Parteien keine Lösungen mehr sehen. Ich glaube, dass es sich um Angst vor dem Verlust der Heimat handelt, verbunden mit der Sorge vor wirtschaftlichem und sozialem Abstieg. Und da scheint es mir bemerkenswert, dass immer mehr Entscheider zumindest die Bedenken hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft des Landes teilen, man also nicht nur von eingebildeten Problemen eines geistigen Prekariats ausgehen kann.

Ich werde selbst seit mehr als einem Jahrzehnt für das Allensbach-Panel befragt. Die Fragestellung war noch nie so auf wirtschaftliche Sorgen fokussiert wie dieses Mal. Und weil ich auch noch nie so viele alarmierte Unternehmensführer getroffen haben wie in den vergangenen Monaten, habe ich die Frage, ob Deutschland seinen Zenit überschritten habe, selbst mit Ja beantwortet.

Der Cocktail aus Bürokratieverstrickung, Digitalisierungsrückstand, Energiekostenexplosion, Fachkräftemangel, Nachfrageausfall und politischer Nonchalance ist zu giftig geworden.

Wer noch zur Mittelschicht gehört – und wer jetzt nicht mehr:
Wenn ich über die Dörfer in Baden-Württemberg fahre, stehen dort verfallende Gasthäuser an den Hauptstraßen wie Mahnmale zur Erinnerung an eine bessere Zeit. Die hiesige Schlüsselindustrie, der Fahrzeugbau, steht vor dem Verbot seines 125-Jahre-Dauerrenners, des Verbrennungsmotors, und Batterien sind hierzulande bisher nicht konkurrenzfähig herzustellen. Elektroautos made in Germany sind ein Ladenhüter. Wenn man den Trend im Automobilbau zehn Jahre weiter rechnet, ist Baden-Württemberg ein neues Ruhrgebiet.

Das alles ist so offensichtlich, dass es auch Menschen, die man für weniger intelligent hält als sich selbst, kaum verborgen bleiben kann. Und bei vielen ist die Krise längst angekommen. Kurzarbeit und betriebsbedingte Kündigungen haben wieder eingesetzt. Die Inflation macht das Leben teurer. Der Wohnungsbau ist zum Erliegen gekommen. Ein Eigenheim aus eigenem Einkommen zu finanzieren, ist faktisch unmöglich geworden. Eine bezahlbare Wohnung zu finden ist ein Sechser im Lotto.